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EKIS: Agenten-basierte Klassensimulationen

Es gibt verschiedene Studien (z.B. Cambourne, 2003; Groundwater-Smith, 1996), die zeigen, dass die besten Trainingserfolge in Bezug auf Klassenführung dann gegeben sind, wenn angehende Lehrpersonen sehr viel Zeit im Klassenzimmer verbringen können und auch in komplexe Entscheidungs- und Klassenführungsprozesse eingebunden sind. Im Kontext von Schulpraktika ist dies aber oft nicht möglich. Typischerweise beziehen sich die Tätigkeiten hier eher auf pädagogische Handlungen und die Gestaltung von Unterrichtseinheiten als auf das Verhalten der Schülerinnen und Schüler und das Funktionieren der Klassensituation (z.B. Ramsey, 2000; Roache & Lewis, 2011). Gleichzeitig wird die Anwendung von Computersimulationen in den Sozialwissenschaften immer populärer und wichtiger und sie ergänzen traditionelle Forschungsmethoden. Computersimulationen können eine neue Dimension in die Diagnostik und das Training von Lehrpersonen bringen, besonders wenn es um komplexe, schwer fassbare Konstrukte geht, wie der Klassenführung.

Computersimulationen können dabei reliable Einsichten liefern, die über die analytische Formbarkeit hinausgehen (Helbing & Balletti, 2011). Simulationen erlauben es, zu untersuchen, ob theoretische Annahme bekannte empirische Phänomene hinreichend gut erklären können und ob es Lücken bzw. Inkonsistenzen gibt. Computersimulationen wurden in zahlenreichen Anwendungsfeldern genutzt, um Trainingseffekte zu maximieren und potentielle Risiken zu minimieren, bspw. im Medizinbereich (Haluck, et al., 2001), in der Luftfahrt (Allerton, 2000) oder in Business- und Managementsimulationen (Ritchie, Fornaciari, Drew, & Marlin, 2013). Computersimulationen können potentiell eine grosse Bandbreite an Situationen abbilden, mit denen angehende Lehrpersonen typischerweise eher selten konfrontiert sind (Mason, Jeon, Blair, & Glomb, 2011). Es gibt aber nur ein paar wenige Beispiele zu theoretisch fundierten Simulationen im Kontext der Lehrpersonenbildung (bspw. Hughes et al., 2015, Straub et al., 2014, Pankowski & Walker, 2016).

Grundsätzlich bestehen potentielle Vorteile bezüglich
- des Erkenntnisgewinns über die analytische Modellierung hinaus;
- der Darstellung seltener Situationen und Ereignisse;0
- dem Üben bzw. Entscheiden ohne potentiellen Schaden anrichten zu können (Matsuda, 2005);
- der Darstellung von Klassengeschehen aus einer alternativen Perspektive (Bradely & Kendall, 2015);
- der Darstellung emotional-affektiver Auswirkungen des täglichen Handelns von Lehrpersonen
- (Brookfield, 1995); der Darstellung und Erfahrbarmachung von Auswirkungen von Handlungen und Entscheidungen in Echtzeit (Ferry, et al., 2004);
- der Stärkung von bewusstem, praktischen Training (deliberate practice) (Ericsson, 2006);

Agenten-basierte Simulationen
Agenten-basierte Simulationen (ABS) werden immer häufiger als Modellierungswerkzeug für komplexe Situationen und Zusammenhänge verwendet, gerade auch im Bereich komplexer, sozialer Interkationen (Abar et al. 2017; North, 2018). Im Gegensatz zu funktionsbasierten Simulationen können ABS heterogene Regeln und Heuristiken, sowie Zufallseinflüsse darstellen. Damit kann eine grosse Bandbreite an psychologischen und physiologischen Charakteristika abgebildet werden, beispielsweise Wahrnehmung, Kognition, oder Emotion (Helbing & Balletti, 2011). Agenten interagieren miteinander und sehr häufig resultieren solche Systeme in unerwartete und sogar paradoxe Ergebnissen. Agenten sind intelligente Computerprogramme, die autonom agieren und dabei ein bestimmtes Ziel verfolgen.

Agenten sind intelligente Computerprogramme, die autonom agieren und dabei ein bestimmtes Ziel verfolgen. Macal und North (2009) charakterisieren Agent wie folgt:
- Agenten sind autonom und selbstgesteuert, sie funktionieren unabhängig in ihrer virtuellen Umgebung und interagieren mit anderen Agenten.
- Agenten besitzen bestimmte sensorische Mechanismen auf deren Basis sie Entscheidungen treffen und Handlungen setzen.
- Agenten sind modular und in sich abgeschlossen, sie sind Einheiten mit bestimmten Charakteristiken, Attributen, Verhaltensweisen und Entscheidungsfähigkeiten.
- Agenten haben Mechanismen und Protokolle, anhand derer sie mit anderen Agent intergieren (bspw. nehmen sie Bezug auf ihre eigene räumliche Ausdehnung, haben Funktionen zur Kollisionsvermeidung, können andere

- Agenten erkennen oder können Informationen mit anderen Agenten austauschen). Verhaltensausprägungen und Zustände von Agenten sind durch die Interaktion mit Umwelt und anderen Agenten bestimmt.
- Agenten können explizite Ziele haben, die ihr Verhalten bestimmen.
- Agenten können die Fähigkeit haben zu lernen bzw. sich bestimmten Kontextbedingungen anzupassen. Diese Fähig inkludiert das Vorhandensein eines Informationsspeichers.
- Agenten können Ressourcen haben, denen ein bestimmter Wert zuordenbar ist.

Im Kontext der Künstlichen Intelligent-Forschung spielen agentenbasierte Systeme eine immer wichtigere Rolle und stellen ein zentrales Paradigma für die Konzeptualisierung, das Design und die Implementierung von Softwaresystemen dar (Weiss, 2013). North (2018) gibt einen Überblick über die aktuellen Methoden. Im Prinzip unterscheidet er dabei domänenspezifische und allgemeine, domänenunabhängige Methoden. North (2018) betont, dass domänenspezifische Methoden höhere praktische Anwendbarkeit und eine höhere Effizienz besitzen, während allgemeine Modelle flexibler und mächtiger sind. Im Kontext von Klassensimulationen sind Multiagentensysteme (MAS) relevant. MAS sind agentenbasierte Modelle in denen eine Vielzahl an autonomen Agenten lose vernetzt, miteinander interagieren (Challenger, Kardas, & Tekinerdogan, 2016; Kardas, Tezel, & Challenger, 2018). Vielversprechend ist der Beliefe-Desire-Intention Ansatz (BDI; Kardas, Tezel, Challenger, 2018). Agenten nehmen ihre Umgebung stetig war und reagieren auf Veränderungen. Diese Veränderungen beruhen auf drei Attributen, den Annahmen (Believes), Ziele (Desires) und Handlungsabsichten (Intentions). Annahmen sind Informationen über die Umgebung und andere Agenten, die zum Teil auch unscharf sind (fuzzy). Ziele beziehen sich auf alle erreichbaren Zustände eines Agenten und Handlungsabsichten beziehen sich auf Entscheidung welcher der möglichen Zustände angestrebt werden soll.

Implementierung
Die Implementierung von komplexen sozialen Simulationen geht über einfache Schwarmsimulationen (z.B. Fussgängerverhalten) weit hinaus. Die Aspekte einer erfolgreichen Implementierung solcher Simulationen beschreiben Helbing & Balletti (2011) inklusiver kritischer Phänomene (bspw. self-destructing prophecies; S. 34). Elementar sind die Wahl und die Anzahl der Modellparameter, die simuliert werden soll (bzw. die Attribute der Agenten). Zu viele Parameter resultieren sehr häufig in ein «over-fitting», eine künstlich starker Fit von simulierten Effekten und Empirie. Gleichzeitig sind solche Modelle sehr schwer zu kalibrieren, das bedeutet geeignete Werte für die Grundparameter des Models zu finden. Daher sollten Modelle so klein und einfach wie möglich gehalten werden (Helbing & Balletti, 2011, S.13). Ein wichtiger Faktor in der Implementierung ist auch die Wahl von Entscheidungsalgorithmen bzw. die Modellierung von Entscheidungsprozessen. In der Literatur finden sich zahlreiche Ansätze, inspiriert bei unterschiedlichen Zielsetzungen. Balke und Gilbert (2014) geben einen Vergleich von 14 ABS Entscheidungs-Architekturen und geben Entscheidungshilfen für unterschiedlich komplexe Modelle und unterschiedliche Zielsetzungen. Bogdanovych und Trescak (2017) untersuchten die Wirksamkeit von planungsbasierten und Utilitiy-basierten Methoden um Agenten im Kontext grosser sozialer Simulationen mit Entscheidungsprozessen (Intelligenz) auszustatten. Unter anderem untersuchten sie die I hinter dem Computerspiel «The Sims» (https://www.thesims3.com/). Sie argumentieren, dass die Utility-based Methode aus dem Spiel zwar effizienter ist und auch leichter zu implementieren, der Realitätsgrad aber nicht optimal ist. Weiters argumentieren sie, dass in Anwendungen, in denen Performanz keine sehr hohe Rolle spielt oder die Anzahl virtueller Agenten verglw. gering, dann liefert die planungs-basierte Methode bessere Ergebnisse.

EKIS
Das Institut Kompetenzdiagnostik (IKO) der Pädagogischen Hochschule St. Gallen entwickelt im Rahmen des EKIS-Projekts eine agenten-basierte Klassensimulation. Diese Simulation basiert auf Agenten, die durch das BIG5-Persönlichkeitsmodell charakterisiert sind. Die Agenten interagieren autonom in Form von positiven und negativen sozialen Interaktionen, sie können alleine als auch in Gruppen lernen und Pausen machen. Das Modell simuliert die Zufriedenheit als auch Aufmerksamkeit der individuellen Agenten, als auch die Aktivität und das Lautstärkenniveau in der gesamten Klasse. Diese Simulation ist der erste Schritt, bestimmt Facetten der Klassenführungsfähig im Kontext dynamischer, autonomer Systeme zu erfassen.

 

Literatur

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Allerton, D. (2000). Flight simulation: Past, present, and future. Aeronautical Journal, 104, 651-663.
Balke, T., & Gilbert, N. (2014). Agents Make Decisions? A Survey. Journal of Artificial Societies and Social Simulations, 17(4), 13-43.
Bogdanovych, A. & Trescak, T. (2017). To Plan or Not to Plan: Lessons Learned from Building Large Scale Social Simulations. In J. Beskow et al. (Eds.), Intelligent Virtual Agents 2017, LNAI 10498. Berlin: Springer.
Bradely, E.G., & Kendall, B. (2015). A Review of Computer Simulations in Teacher Education. Journal of Educational Technology Systems, 43(1), 3-12.
Brookfield, S. (1995). Becoming a critically reflective teacher. San Francisco, CA: Jossey-Bass.
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Weiss, G. (2013). Multi Agent Systems (2nd Ed.). Cambridge, MA: MIT Press.

Michael Kickmeier-Rust, 22.5.2021

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Institut Kompetenzdiagnostik
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