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Socrates 2.0: Interventionsstudie zur Förderung dialogischer Klassengespräche

Lehrpersonengeleitete Klassengespräche stellen aus allgemeindidaktischer und fachdidaktischer Perspektive besondere Lerngelegenheiten dar: Kompetent orchestriert und dialogisch geführt, fördern sie nicht nur das fachliche Lernen, sondern auch zentrale überfachliche Kompetenzen wie die Gesprächskompetenzen der Lernenden. Trotz theoretisch und empirischer Erkenntnisse, die das Potenzial von dialogischen Klassengesprächen belegen, dominieren in der Praxis immer noch Gesprächsformen, die den Lernenden wenig Partizipationsmöglichkeiten zugestehen. Dies hängt u.a. mit der anspruchsvollen und anforderungsreichen dialogischen Gesprächsführung und -teilnahme zusammen. Im Rahmen der Interventionsstudie Socrates 2.0 wurde ein Fortbildungsprogramm (Projektteam: C. Pauli & K. Reusser [Leitung], M. Moser, A. Wischgoll, M. Zimmermann) mit dem Ziel konzipiert, das Gesprächsführungsverhalten von Lehrpersonen sowie die Qualität ihrer fachlichen Gespräche im Mathematik- und Geschichtsunterricht in Richtung dialogischer und fachdidaktisch gehaltvoller Klassengespräche weiterzuentwickeln.

Dialogische Klassengespräche - Lerngelegenheiten für den fachlichen und überfachlichen Kompetenzerwerb
Klassengespräche, d.h. im Fachunterricht von der Lehrperson geleitete Gespräche mit einer Klasse oder einer grösseren Gruppe, finden an der Volksschule in hohem Masse statt (u.a. Cazden, 2001; Hiebert, 2003; Pauli, 2010; von der Groeben, 2009). Die dialogische Qualität und der fachliche Gehalt dieser Art Gespräche fallen jedoch gemäss Studien defizitär aus (zusammenfassend z.B. Pauli, 2010). Aufgrund des dominierenden IRE-Musters (Initiation-Reply-Evaluation; Mehan, 1979) handelt es sich bei der Mehrheit solcher Klassengespräche um eine Art Lehrvortrag mit verteilten Rollen (Ehlich, 2015), bei welchem die Schülerinnen und Schüler die Position von Stichwortgebenden einnehmen und kaum Raum für ein vertieftes fachliches Verstehen des Lerngegenstandes erhalten.
In dialogischen Klassengesprächen hingegen

  • erhalten und übernehmen Lernende Verantwortung für ihre Teilnahme und die Qualität ihrer Beiträge,
  • hören sich Lehrperson und Lehrende ernsthaft zu,
  • werden Lernende zum Nach- und Mitdenken angeregt und zum Argumentieren, Begründen und Erklären aufgefordert,
  • ein kumulativer Austausch statt,
  • wird als Wissensbildungsgemeinschaft ein gemeinsames Ziel verfolgt (vgl. u.a. Alexander, 2008; Lefstein & Snell, 2014; Michaels, O’Connor & Resnick, 2010, Resnick, Asterhan & Clarke, 2018; Reznitskaya & Wilkinson, 2017).

Dialogische Klassengespräche sind somit Aushandlungsorte, in welchen die Lehrperson und die Schülerinnen und Schüler gemeinsam Wissen konstruieren. Die Lernenden erhalten Raum, ihr Denken offen zu legen, ihre Überlegungen mit der Lehrperson (als Expertin) sowie den Mitschülerinnen und Mitschülern zu reflektieren und sich dadurch vertieft mit einem Lerngegenstand auseinanderzusetzen. Nebst dem fachlichen Kompetenzerwerb eigenen sich die Lernenden zentrale fachübergreifende Fähigkeiten und Fertigkeiten an. Sie üben sich im Sinne der «cognitive apprenticeship» (Collins, 2006) im Zuhören, im verständlichen Verbalisieren ihrer Gedankengänge, im respektvollen Herausfordern anderer Beiträge, im Argumentieren und im Begründen ihrer eigenen Aussagen.
Bemühungen, das Potential, welches dialogische Klassengespräche aus sozio-kultureller Lehr-Lern-Perspektive bieten, empirisch nachzuweisen, gibt es seit einiger Zeit. In den letzten Jahrzehnten konnte eine wachsenden Anzahl Studien den Zusammenhang von qualitativ hochstehenden Klassengesprächen und Lernendenleistungen (fachliche und sprachlich-diskursive Lernzuwächse) bestätigen (Überblick in Heller & Morek, 2019). Unbestritten ist, dass ein positiver Einfluss von Klassengesprächen auf die Kompetenzentwicklung der Schülerinnen und Schüler jedoch nur erwartet werden kann, wenn die Unterrichtsgespräche eine bestimmte Qualität garantieren (Pauli & Reusser, 2015). Eine Möglichkeit, dialogische Klassengespräche zu fördern, bieten Lehrerfortbildungen. Solche können sowohl den Lehrpersonen wie auch den Lernenden u.a. wichtige Tools vermitteln, die sie bei einer erfolgreichen Umsetzung dialogischer Klassengespräche unterstützen.

Socrates 2.0 - Eine Fortbildung zur Förderung dialogischer Gesprächsführung
Im Rahmen des vom Schweizerischen Nationalfonds geförderten Forschungsprojekts Socrates 2.0 wurde eine einjährige Fortbildung unter der Projektleitung von Christine Pauli und Kurt Reusser und den Projektmitarbeitenden Miriam Moser, Anke Wischgoll und Matthias Zimmermann konzipiert. Ziel dieses Projektes war die Weiterentwicklung der dialogischen Gesprächsführungskompetenz von Lehrpersonen der Sekundarstufe l.
Die Fortbildung lehnt an bestehende Trainingsprogramme an, die sich an Konzepten wie «Accountable Talk» (Michaels, O’Connor & Resnick, 2010) orientieren. Drei Kernelemente zeichnen dieses Fortbildungsformat aus: 1) Ein Werkzeugkasten mit Gesprächsprompts für die Lehrpersonen, 2) zwei Präsenzveranstaltungen (Trainings) und 3) insgesamt sieben «Coaching-Zyklen» (basierend auf Allen, Pianta, Gregory, Mikami, & Lun, 2011). Neun Geschichts- und Mathematiklehrpersonen aller drei Anforderungsstufen (Grund-, erweiterte, hohe Anforderungen) der Sekundarstufe l aus drei Kantonen (Bern, Zürich, Freiburg) nahmen an der Fortbildung teil. Drei der Lehrpersonen erhielten ein fachübergreifendes Fortbildungsformat, sechs Lehrpersonen eine fachdidaktische Erweiterung. Ersteres fokussierte allgemeindidaktische Inhalte wie die zentralen Elemente des Gesprächskonzepts «Accountable Talk». Das fachdidaktisch erweiterte Setting beinhaltete zusätzlich zu den fächerübergreifenden Gelingensbedingungen von dialogischen Klassengesprächen fachspezifische Inhalte, z.B. die Qualität von Aufgabenstellungen. Drei weitere Lehrpersonen nahmen als Vergleichslehrpersonen nur an der Eingangs- und Ausgangserhebung teil.


Abbildung 1: Studiendesign Socrates 2.0


Vor und nach der Fortbildung (Eingangs-, Ausgangserhebung, Follow up) wurden Daten in Form von videografierten (Doppel-)Lektionen mit Klassengesprächen und SchülerInnengruppengesprächen sowie Befragungen (Interviews, Onlinebefragung) erhoben. Zusätzliche Daten wurden anhand der sieben Coachingzyklen in Form von videografierten Klassengesprächen und protokollierten Coachinggesprächen in den drei Praxisphasen (P1, P2, P3) generiert.
Erste Datenauswertungen zeigen eine Veränderung in die gewünschte Richtung (Zimmermann, 2020). Ein Arbeitsbuch für Lehrpersonen, basierend auf den Erkenntnissen des Forschungsprojektes Socrates 2.0, ist in Arbeit mit dem Ziel, dialogische Klassengespräche mithilfe weiterer Fortbildungen und auch im Rahmen der Lehrerinnen- und Lehrerbildung zu etablieren.

 

Literatur

Alexander, R. (2008). Towards dialogic teaching: Rethinking classroom talk (4 ed.). York: Dialogos.
Allen, J. P., Pianta, R. C., Gregory, A., Mikami, A. Y., & Lun, J. (2011). An Interaction-Based Approach to Enhancing Secondary School Instruction and Student Achievement. Science, 333, 1034-1037.
Collins, A. (2006). Cognitive Apprenticeship. In R. K. Sawyer (Ed.), The Cambridge Handbook of the Learning Sciences (pp. 47-60). Cambridge: Cambridge University Press.
Cazden, C. B. (2001). Classroom Discourse: The Language of Teaching and Learning (2 ed.). Portsmouth: Heinemann.
Ehlich, K. (2015). Unterrichtskommunikation. In M. Becker-Mrotzek (Ed.), Mündliche Kommunikation und Gesprächsdidaktik (Vol. 3, pp. 327-348). Baltmannsweiler: Schneider verlag Hohengehren.
Groeben, A. v. d. (2009). Wie viel Führung braucht das Unterrichtsgespräch? Pädagogik (Weinheim), 61(1), 6-10.
Hiebert, J., Gallimore, R., Garnier, H., Givvin, K. B., Hollingsworth, H., & Jacobs, J. (2003). Teaching mathematics in seven countries. Results from the TIMSS 1999 video study. Washington, DC: Department of Education, National Center for Education Studies.
Mehan, H. (1979). Learning lessons: Social organization in the classroom. Cambridge, Mass.: Harvard University Press.
Michaels, S., O'Connor, M. C., Hall, M. W. & Resnick, L. B. (2010). Accountable Talk® Sourcebook: For Classroom Conversation that Works. Pittsburgh: University of Pittsburgh, Institute for Learning.
Murphy, P. K., Wilkinson, I. A. G., Soter, A. O., Hennessey, M. N., & Alexander, J. F. (2009). Examining the effects of classroom discussion on students’ comprehension of text: A meta-analysis. Journal of Educational Psychology, 101(3)
Pauli, C. (2010). Klassengespräche – Engführung des Denkens oder gemeinsame Wissenskonstruktion selbstbestimmt lernender Schülerinnen und Schüler? In T. Bohl, K. Kansteiner-Schänzlin, M. Kleinknecht, B.
Kohler & A. Nold (Hrsg.), Selbstbestimmung und Classroom Management. Empirische Befunde und Entwicklungsstrategien zum guten Unterricht (S. 145-161). Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
Pauli, C., & Reusser, K. (2018). Unterrichtsgespräche führen - das das Transversale und das Fachliche einer didaktischen Kernkompetenz. Beiträge zur Lehrerbildung, 36(3), 365-377.
Resnick, L. B., Michaels, S., & O'Connor, C. (2010). How (well structured) talk builds the mind. In R. J. Sternberg & D. Preiss (Eds.), Innovations in educational psychology. Perspectives on learning, teaching, and human development (pp. 163-194). New York: Springer.
Resnick, L. B., Asterhan, C. S. C. & Clarke, S. N. (2018). Accountable Talk: Instructional dialogue that builds the mind. Genf: IBE, UNESCO International Bureau of Education.
Resnick, L. B., Asterhan, C. S. C., Clarke, S. N. & Schantz, F. (2018). Next generation research in dialogic learning. In G. E. Hall, L. F. Quinn & D. M. Gollnick (Eds.), Wiley Handbook of teaching and learning (S. 323-338). New York: Wiley.
Reznitskaya, A., & Wilkinson, I. A. G. (2017). The most reasonable answer : helping students build better arguments together. Cambridge: Harvard Education Press.
Zimmermann, M. (2020). Dialogische Klassengesprächsleitung im Geschichtsunterricht. Veränderungen einer professionellen Kompetenz von Lehrpersonen im Rahmen der Interventionsstudie Socrates 2.0. Dissertation. Fribourg: Uni Fribourg (Publikation Wochenschau Verlag in Vorb).

Miriam Moser (PHSG)
Christine Pauli (Universität Fribourg)

27.5.2021
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